Bonner Geschichtswerkstatt Nr. 1/1999


 

Inhalt:

Herausgeber: Bonner Geschichtswerkstatt e.V., Adenauerallee 58, 53113 Bonn, Tel.: 0228/214098, Fax: 0228/2420754

Redaktion: Sabine Harling, Lothar Schenkelberg (v.i.S.d.P.), Erhard Stang


 
 
 

Werkstattgeflüster

Nach sieben Jahren ist es endlich gelungen, die Zeitschrift "Bonner Geschichtswerkstatt" wieder zum Leben zu erwecken! Viele Mitglieder, die sich in den Anfangsjahren um die Redaktion kümmerten, haben in den letzten Jahren aus beruflichen oder familiären Gründen Bonn den Rücken gekehrt. Die Arbeit an den laufenden Projekten - zuletzt die Erstellung der Dokumentation "Die Ausstellung `Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944´ in Bonn vom 29.9. - 1.11.1998" - hat viele Kräfte gebunden.

Die Wiederbelebung der Zeitschrift ist in erster Linie der Initiative Lothar Schenkelbergs zu verdanken. Als Gründungsmitglied hat er in all den Jahren seit bestehen des Vereins für die Kontinuität unserer Arbeit gesorgt. Für alle, die es (immer) noch nicht wissen: Am 19. Oktober 1999 ist Lothar stellvertretend für die Geschichtswerkstatt mit dem "Rheinlandtaler" ausgezeichnet worden. Wir freuen uns mit ihm und gratulieren an dieser Stelle noch einmal auf das Herzlichste!

Aktueller Anlass für die Herausgabe dieses Hefts zum jetzigen Zeitpunkt ist das Jubiläum des St. Johannes - Hospitals: Als "Bürgerhospital vom Heiligen Johannes dem Täufer" wurde es vor 150 Jahren am 19. November 1849 eingeweiht. Auch zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem Bonner Norden, wenn auch mit so unterschiedlichen Themen wie der Bonner Fahnenfabrik in der Zeit des Nationalsozialismus und Prostitution in Bonn um die Jahrhundertwende.

Im Sommer dieses Jahres hat die Bonner Geschichtswerkstatt mit einem neuen Projekt begonnen, in dem wir die Geschichte Godesbergs erforschen wollen. Auch dieses Mal ist es wieder unser Ziel, die Ergebnisse in einem Buch vorzulegen. Zur Mitarbeit am Projekt, das Erhard Stang in diesem Heft vorstellt, sind Interessierte herzlich eingeladen. Die Termine für unsere Arbeitssitzungen haben sich nicht verändert: Wie üblich treffen wir uns an jedem 1. Mittwoch im Monat um 20.00 Uhr in unserem Büro in der Adenauerallee 58.

Und natürlich soll diese Ausgabe unsere Zeitschrift keine "Eintagsfliege" bleiben. Wir hoffen, im nächsten Heft erste Ergebnisse unserer Forschungen über Godesberg präsentieren zu können.

Sabine Harling

 
 
 

"Die Ehre von Bonn"

Die Gründung des Bürgerhospitals zum Hl. Johannes dem Täufer

(Sabine Harling)

"Das hiesige Hospitalwesen befindet sich aus Mangel an Mitteln in einer so betrüblichen Lage, daß Menschlichkeit und Christenpflicht zu einer völligen Umgestaltung desselben auffordern."(1) Mit diesen Worten wandte sich Ferdinand Walter, Bonner Professor der Jurisprudenz, am 24. April 1842 an den Bischof Andreas Räß in Straßburg. Es gab allen Grund zur Klage: Insbesondere die Armen der Stadt, deren Zahl in den vorangegangenen Jahren beträchtlich gestiegen war, hatten kaum eine Möglichkeit, ärztlich angemessen versorgt zu werden.

Geheimrat Ferdinand Walter
Geheimrat
Ferdinand Walter   

Zwar hatte die Armenverwaltung der Stadt 1819 mit der neu gegründeten Universität ein Abkommen geschlossen, nach dem mittellose Kranke in die Klinik der Universität aufgenommen werden sollten, aber für die "Stadtarmen" standen dort lediglich 12 Betten zur Verfügung, und die Patienten wurden vor allem als "Anschauungsmaterial" für angehende Mediziner betrachtet. In der Nähe des Münsters - heute Ecke Remigiusstraße/Münsterplatz - befand sich das St. Aegidius-Hospital. Im 12. Jahrhundert durch den Kölner Erzbischof gegründet, sollte es ursprünglich bedürftige Kranke und nach Rom reisende Pilger aufnehmen, aber seit 1822 wurde es ausschließlich als Heim für alte Frauen genutzt. Die gleiche Funktion erfüllte im 19. Jahrhundert St. Jacob. Dieses Hospital war im 17. Jahrhundert in der Hospitalgasse - heute Ecke Friedrichstraße/Jacobstraße - erbaut worden. Es sollte ein Hospital ersetzen, das im 15. Jahrhundert in der Sternstraße für "Bonner Bürger beiderlei Geschlechts" eingerichtet worden war, aber 1689 durch Brand zerstört wurde. St. Jacob bot neben Kranken auch Pilgern auf dem Weg nach Santiago de Compostela Herberge, aber seit 1839 diente es ausschließlich der Aufnahme von alten, erwerbsunfähigen Witwen. Unheilbar arme Kranke schob man in ein "Siechenhaus" ab. Für arme "Hauskranke" war um die Mitte des letzten Jahrhunderts der Kreisphysikus zuständig, der auch die Aufsicht über Apotheken, Chirurgen, Bader und Hebammen hatte. Für die Betreuung der mittellosen Kranken bekam er von der Stadt einen Gehaltszuschuß. Die ersparte sich damit die Ausgaben für einen eigenen städtischen Armenarzt. (2)

Walters Klage vom 24.April 1842 war also durchaus berechtigt. Die Mißstände hatten auch schon die Armenverwaltung unter der Präsidentschaft des Oberbürgermeisters Oppenhoff dazu bewogen, sich am 1.April 1842 mit einem Aufruf im Bonner Wochenblatt an die "geschätzten Mitbürger" zu wenden.(3) Der Armenverwaltung fehle es an Mitteln, das Hospitalwesen zu verbessern; deshalb appelliere sie an den Wohltätigkeitssinn der Bürger, "die Errichtung eines den Anforderungen der Zeit entsprechenden Asyles" mit Spenden zu unterstützen. Die Armenverwaltung wolle "die Liebesgaben so lange zu einem Sammelfonds rentbar anlegen, bis sich derselbe als genügend herausstellt, die neue Anstalt in's Leben zu rufen." Von der Stadt kam auch der Vorschlag, "die innere Verwaltung der combinierten Anstalt barmherzigen Schwestern anzuvertrauen", einer französischen Kongregation, die im 17.Jahrhundert durch Vinzenz von Paul ins Leben gerufen worden war. Neben den evangelischen Diakonissen waren sie eine der wenigen Gemeinschaften, die qualifizierte Alten- und Krankenpflege betrieben und zu jener Zeit bereits Hospitäler in Trier, Koblenz und Mainz betreuten.

Gesamtansicht aus der Zeit vor 1910
Gesamtansicht aus der Zeit vor                 
1910

Der Aufruf zeigte unverzüglich Wirkung. Bereits eine Woche später konnte das "Bonner Wochenblatt" auf der Titelseite eine erste Liste von Spendern veröffentlichen, und in der gleichen Ausgabe begrüßte ein anonymer Schreiber die Anregung der Armenverwaltung, beklagte aber, daß die Verwirklichung der Idee wegen "Mangel an Fonds" wohl erst in ferner Zukunft liegen könne. Alles würde schneller gehen, wenn die Mittel, die für das Beethoven-Denkmal bereits zur Verfügung stünden, für das Hospital verwendet würden: "Dem Hospital könnte dann der Name des großen Meisters beigelegt und seine Büste im Inneren des Hauses aufgestellt werde. Sollte sein Andenken auf diese Weise nicht würdiger und dauernder erhalten werden, als durch eine Büste durch Bronze oder Stein ?"(4)

Am 12. April stellten "mehrere Bonner Bürger" öffentlich ein anderes Projekt zur Diskussion: Ein Hospitalverein sollte gegründet werden, der gemeinsam mit der Armenverwaltung das Kapital für das Bauvorhaben aufzubringen habe.(5) Einen Tag später fand im Rathaus eine erste Besprechung statt, an der Vertreter aller Konfessionen teilnahmen. Zwar bildeten die Katholiken entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil mit 22 Vertretern die größte Gruppe, aber es waren auch vier Vertreter der evangelischen Gemeinde und drei der jüdischen anwesend. Sie waren sich einig, daß der Hospitalbau die Angelegenheit aller Bürger sein sollte und daß das Krankenhaus nach seiner Fertigstellung als städtische Einrichtung besonders den Bedürftigen ungeachtet ihrer Konfession offenstehen müsse. Nicht unwidersprochen blieb dagegen bei den Protestanten die Forderung der Katholiken, die Verwaltung und Pflege müsse den Barmherzigen Schwestern übertragen werden, wie es bereits die Armenverwaltung vorgeschlagen hatte. Ferdinand Walter, Initiator des Hospitalvereins und Katholik, bemühte sich, die Einwände der Protestanten zu entkräften: Er verwies auf die guten Erfahrungen, die das Koblenzer Hospital mit den Borromäerinnen, einem Zweig der Barmherzigen Schwestern, gemacht hatte. Er war es auch, der sich sofort um Kontakte mit dem Mutterhaus der Borromäerinnen in Nancy bemühte - das war der Grund für seinen Brief an den Bischof von Straßburg. Die Protestanten konnte er allerdings nicht überzeugen. Die Folge dieses ersten konfessionellen Konflikts war, daß sich die Vertreter der evangelischen und auch der jüdischen Gemeinde aus dem Projekt "Hospitalverein" zurückzogen und es den Katholiken überließen.

Als am 1. Juli 1842 die erste Generalversammlung des Hospitalvereins im Rathaus tagte, waren die Katholiken bereits unter sich. In den vergangenen vier Wochen waren die Initiatoren nicht untätig gewesen und hatten provisorische Statuten aufgestellt, die am 26. November durch das königliche Oberpräsidium in Koblenz gebilligt wurden. Darin wurde bekräftigt, daß der Hospitalverein beim Bau "in Gemeinschaft mit der städtischen Armenverwaltung" zu handeln habe und daß die Barmherzigen Schwestern die innere Verwaltung des Hospitals übernehmen sollte. Die Statuten regelten die Formalia des Vereins und legten einen Mitgliedsbeitrag von einem Taler pro Jahr fest.(6) Der Verein gab Empfehlungen, wie das Spendenaufkommen zu erhöhen sei: So sollte in jedem "Hauswesen" eine Sparkasse angelegt und "Kinder und Dienstboten ... zu kleineren Gaben" angehalten werden. Jeder Gastwirt, so er Mitglied des Vereins war, sollte in seiner Gaststätte eine "Büchse" aufstellen, jeder Handwerksmeister seine Gesellen "zu 3 Pf. wöchentlich" bewegen.(7) Kurz: alle Schichten der Bevölkerung sollten mobilisiert werden, zum Krankenhausbau beizutragen. Daß die Realisierung des Projekts keine bloße Illusion einiger Engagierter war, wurde schnell deutlich: Im Juli hatte der Hospitalverein bereits über hundert ausschließlich katholische Mitglieder, unter ihnen den Kölner Erzbischof, nicht unbeachtliche Spendenzusagen und andere Formen materieller Unterstützung gewonnen. So hatte das Schreineramt eine Liste von 42 Mitgliedern vorgelegt, die sich zur Anfertigung eines Möbelstücks für das Hospital bereit erklärt hatten. Auf der ersten Vorstandssitzung am 18.Juli wurde schließlich jener Mann zum Präsidenten gewählt, der sich bereits in der ersten Stunde für das Hospitalprojekt eingesetzt hatte: Ferdinand Walter. Damit stand an der Spitze des Vereins ein Vertreter des katholisch-konservativen Bürgertums, ein Mann, nach dessen Überzeugung Sozialarbeit und damit auch die Versorgung mittelloser Kranker ausschließlich die Angelegenheit privaten Engagements, nicht die des Staates oder der Gemeinde sein sollte. Seiner Überzeugung nach würden die Armen aus öffentlicher Hilfe schließlich einen Rechtsanspruch ableiten, der sie "trotzig" mache.(8)

Der Hospitalverein wollte möglichst schnell aus der Planungsphase heraustreten und handelte dabei zunehmend unabhängig von der Armenverwaltung. Am 1.Dezember 1843 beschloß der Vorstand den Ankauf eines Bauplatzes. Ein geeignetes Grundstück fand er vor dem ehemaligen Kölntor im Norden der Stadt. Ausschlaggebend für die Wahl waren nicht zuletzt die Grundstückspreise, die hier günstiger waren als im reicheren Süden Bonns. Es verstrich allerdings noch ein weiteres Jahr, bis die Kommission, die vom Verein beauftragt worden war, den Kaufakt zu tätigen, am 3.Dezember 1844 stolze 4525 Taler "für den Erwerb mehrerer am Cölnthor gelegenen Grundstücke zusammen ohngefähr 3 Magdeburger Morgen (83.013 Ar, S.H.) enthaltend" verwenden konnte.(9)

Krankensaal III. Klasse
Krankensaal III. Klasse                          

Die konfessionellen Konflikte, die das Projekt ausgelöst hatte, waren unterdessen neu aufgeflammt. Die evangelische Gemeinde hatte sich zwar aus dem Hospitalverein zurückgezogen, war aber an dem Hospital als städtischer Anstalt weiterhin interessiert und unterstützte den Bau finanziell durch Spenden an die Armenverwaltung. Strittig blieb allerdings, wer die Krankenpflege übernehmen sollte. Nachdem die Protestanten von ihrer ersten Forderung, die evangelischen Kranken in gesonderten Räumen durch evangelische Diakonissen pflegen zu lassen, abgewichen waren und nur noch auf getrennten Räumen für Patienten unterschiedlicher Konfession bestanden, war die Armenverwaltung bereit, dieser Forderung gegenüber dem Hospitalverein Nachdruck zu verleihen. Oppenhoff sah sich schließlich auch der protestantischen Gemeinde verpflichtet, deren Angehörige im preußischen Bonn einflußreiche Bürger und in der Oberschicht überproportional vertreten waren. Außerdem saßen im Armenrat auch die evangelischen Pfarrer, die sich für die Interessen ihrer Gemeindemitglieder einsetzten. Die Zusicherung der Armenverwaltung an die evangelische Gemeinde erschien wiederum dem Hospitalverein höchst bedenklich. Er hatte sich dennoch auf einer Generalversammlung vom 8.November 1843 dazu durchgerungen, "der erwähnten Trennung der Räume keinen Einspruch entgegenzustellen, vorausgesetzt, daß dafür die Hauptsache, nämlich der Übernahme der Verwaltung durch katholische barmherzige Schwestern, kein Hinderniß entstände".(10) In einer Vereinbarung zwischen Hospitalverein und Armenverwaltung vom 1.November 1844 erneuerte der Hospitalverein seine Zusage, daß das fertiggestellte Krankenhaus Eigentum der Armenverwaltung und damit städtisch werden würde. Einen Vorbehalt sprach er jedoch aus: Sollte den Barmherzigen Schwestern Verwaltung und Pflege nicht übertragen werden, würde das Hospital der Münsterkirche überschrieben werden.

Der Baubeginn verzögerte sich aber aus anderen Gründen. Der Architekt van der Emden, der in Bonn auch andere repräsentative Bauvorhaben durchführte - so das Theater in unmittelbarer Nähe des geplanten Hospitals - hatte sich bereit erklärt, unentgeltlich einen Bauplan zu entwerfen, bis zu dessen Annahme das Jahr 1845 annähernd verstrich: Die Kosten für das zuerst geplante Objekt mit 150 bis 170 Betten erwiesen sich als zu hoch. Der Plan mußte mehrfach geändert werden, bis er schließlich einen Bau vorsah, der ohne großen Aufwand erweitert werden konnte, sollten in den nachfolgenden Jahren mehr Mittel zu Verfügung stehen. Als die Armenverwaltung nun aber noch Zusatzwünsche anmeldete, befürchtete der Hospitalverein einen weiteren Zeitverlust und beschloß am 6.Februar 1846, dem Oberbürgermeister mitzuteilen, daß er entschlossen sei, den Bau allein und ohne Mitwirkung der Armenverwaltung zu beginnen. Und so geschah es nach Eintreffen der Baugenehmigung Anfang April 1846.

Die Feierlichkeiten für die Grundsteinlegung, die für den 22.Juni 1846 vorgesehen waren, wurden von einem eigens für dieses Ereignis gebildeten Festkomitee vorbereitet. Einen solchen Zustrom erwartete der Hospitalverein anläßlich dieser Zeremonie, daß Ferdinand Walter in einem Brief an den Oberbürgermeister um Militäreinsatz bat. Seines Erachtens war es erforderlich, "um halb neun an der Münsterkirche Militär aufzustellen, um das plötzliche Einstürmen in die Kirche zu hindern".(11) Nach dem Hochamt sollte sich der Festzug zum Hospitalbauplatz begeben - ebenfalls von Soldaten begleitet -, um dort der Grundsteinlegung beizuwohnen. Der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel würde diesen Akt persönlich vornehmen. Nach seinem Namenspatron, dem heiligen Johannes dem Täufer, sollte das neue Hospital den Namen St. Johannes-Hospital erhalten.

Flügel mit gotischem Mittelbau 1878
Flügel mit gotischem Mittelbau 1878        
Die Befürchtungen, die der Hospitalverein in bezug auf den Ablauf der Feier gehegt hatte, erwiesen sich als grundlos: "Dieselbe fand genau nach dem hierüber von dem Vorstande veröffentlichten Programme unter allgemeinster Theilnahme und in schönster Ordnung statt."(12) Die Vertreter der evangelischen Gemeinde blieben der Feier auf Beschluß des Presbyteriums allerdings fern - eine Entscheidung, die wiederum das Mißtrauen der Katholiken förderte. Auch Oberbürgermeister Oppenhoff lehnte die Teilnahme ab. Damit wollte er demonstrieren, daß er den Hospitalbau mittlerweile als Privatangelegenheit des Hospitalvereins betrachtete.

Mit der Grundsteinlegung war ein sichtbarer Anfang gemacht. Dennoch schien das Engagement der Bonner Bürger zu erlahmen: Die Geldmittel flossen weniger reichlich, was der Vorstand des Hospitalvereins auf die verschlechterte wirtschaftliche Situation zurückführte.

Um neue Impulse zu geben und weitere Kreise der Bevölkerung für die Unterstützung des Projekts zu gewinnen, gründete sich beim Bierbrauer Klein nach dem Vorbild der Kölner Dombauvereine der "gesellige Hospitalverein", der schon bald durch zwei weitere, den "brüderlichen" und den "werkthätigen" ergänzt wurde. Das Verhältnis der drei Hilfsvereine zum Hauptverein wurde im Stiftungslied des "geselligen Vereins" mit dem Vers besungen: "Kräftig trieb der Baum gesunde Äste - Dreifach könnt ihr hier sie prangen sehn !"(13)

Die Hilfsvereine setzten aber auch neue Akzente: Insbesondere der "gesellige Hospitalverein" perfektionierte das Spendensammeln durch sogenannte Kollektanten, die allwöchentlich in den ihnen speziell zugewiesenen Bezirken von Haus zu Haus gingen. Der Handwerkerstand, der in allen Hilfsvereinen stark vertreten war, band seine Mitglieder jetzt stärker in das Hospitalprojekt ein. So wurden unentgeltliche Handwerkerarbeiten von Meistern insbesondere aus dem "geselligen Verein" geliefert, während Mitglieder des "brüderlichen" und des "werkthätigen Vereins" Arbeiten am Hospitalbau an mittel- und beschäftigungslose Handwerker vergaben. In einer Zeit der zunehmenden Verarmung von weiten Teilen der Handwerkerschaft erwies sich damit der Bau auch als eine Art von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme - ein Nebeneffekt, der lobend hervorgehoben wurde: "Dabei hat der Ausbau des im vorigen Jahre unter Dach gebrachten westlichen Flügels über 100 Meistern des Handwerkerstandes unserer Stadt Beschäftigung gegeben und beschäftigt sie noch fortwährend; es wird somit ein doppelt wohlthätiges Ziel erreicht: kräftige Förderung des Hospitalbaues selbst und Beschaffung von Arbeit in einer Zeit, wo Gewerb und Verkehr auf empfindliche Weise stocken."(14)

Für das Bildungsbürgertum wurde auf Anregung des Textilfabrikanten Friedrich Weerth vom 22.Mai bis zum 3.Oktober 1847 in den unteren Räumen des Hospitals, das zu diesem Zeitpunkt im Rohbau schon fast fertiggestellt war, eine Kunstausstellung gezeigt, deren Leitung dem zukünftigen Revolutionär Gottfried Kinkel übertragen worden war. Das Verzeichnis der ausgestellten Kunstgegenstände, die zum Teil käuflich zu erwerben waren, umfaßte "ältere und neuere Gemälde, Kupferstiche, Bildhauerarbeiten und Waffen".(15) Die 341 Exponate wurden aus der gesamten Rheinprovinz herbeigeschafft und waren gegen ein Eintrittsgeld von 5 Silbergroschen jeden Tag von morgens 7 bis abends 7 zu betrachten. Am Ende hatte der Verein 608 Taler und 9 Silbergroschen eingenommen und die Veranstalter waren überzeugt, "daß damit zugleich unserer Stadt während 5 Monaten ein überaus reicher Kunstgenuß verschafft und auch dadurch unserem Hospitalunternehmen mannigfaltige Freunde zugeführt worden sind".(16)

Das Spendenaufkommen zu vergrößern, war um so notwendiger, als es um die Jahreswende 1847/48 zum endgültigen Bruch mit der Armenverwaltung kam. Diese hatte sich am 23.Juni 1846 und am 7.September 1847 geweigert, ihr zugeflossene Spendenbeiträge der Protestanten an den Hospitalverein weiterzuleiten. Unter den gegebenen Umständen fühlte die Armenverwaltung sich zur Herausgabe dieser ihr anvertrauten Gelder nicht befugt. Der Vorstand des Hospitalvereins bestand hingegen auf der Weiterleitung und berief sich auf die Vereinbarung aus dem Jahre 1844, in der der evangelischen Gemeinde getrennte Räume zugesagt worden waren. Damit seien die Interessen der Protestanten gewahrt und die Armenverwaltung zur Zahlung verpflichtet. Als die Stadt sich im November 1847 schließlich bereit erklärte, die Spenden weiterzuleiten, erneut ein "Recht auf die Eigenthums-Uebergabe des Hospitalbaues" anmeldete und die Bildung einer neuen "Hospital-Commission" vorschlug, lehnte der Hospitalverein die letztere Bedingung ab. Diese Kommission sollte aus allen Mitgliedern der Armenverwaltung und des Vorstands des Hospitalvereins bestehen und unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters "bis zu Vollendung des Baues gemeinschaftlich wirken". In einer Mitteilung an die "wohllöbliche Armenverwaltung"(17) lehnte Walter im Auftrag des Vorstandes das Angebot einer Kooperation mit der Begründung ab, durch eine solche Besetzung der Kommission würden die "Akatholiken" - die Nichtkatholiken - begünstigt.

Es scheint, als habe der Hospitalverein nur darauf gewartet, mit der Stadt brechen zu können, zumal es von Anfang an Vereinsmitglieder gegeben hat, die der Ansicht waren, das Hospital solle nicht als städtische, sondern als kirchliche Anstalt gegründet werden. Zwar gab es wenige protestantische Mitglieder, aber insgesamt war der Verein eine Angelegenheit des katholischen Bürgertums, das in dem Hospitalprojekt einen wichtigen Beitrag zur katholischen Erneuerungsbewegung in der preußischen Rheinprovinz sah. Wenn überhaupt, dann wollte der Hospitalverein eine Zusammenarbeit mit der Stadt zu seinen Konditionen, stand für ihn doch fest, daß er "seine Unternehmung auch ohne die Armenverwaltung zu Ende bringen kann und wird, die Armenverwaltung nicht ohne ihn, und als endlich es gegen den gewöhnlichen Gang der Dinge wäre, wenn diejenigen, die eine so bedeutende Schenkung oder Stiftung zu machen beabsichtigen, sich die Bedingungen müßten vorzeichnen lassen, unter welchen sie schenken sollen".(18) In der Tat wäre es der Armenverwaltung allein wohl kaum gelungen, die Bonner Bevölkerung so zu mobilisieren, wie es der Hospitalverein vermochte.

Ansicht aus der Zeit nach 1910
Ansicht aus der Zeit          
nach 1910

Walter machte der Armenverwaltung allerdings noch ein Gegenangebot, durch das er die Unabhängigkeit des Hospitals von der Stadt gesichert sah: Gemeinsam sollten sie um eine mit Korporationsrechten - Körperschaftsrechten - ausgestattete Stiftung nachsuchen. Dann möge ein Kuratorium gebildet werden, das aus sechs Mitgliedern des Hospitalvereine, drei der Armenverwaltung und einem "israelitischen Mitglied" bestehe. Sollte die Armenverwaltung diese Bedingungen ablehnen, so habe man schon eine Alternative gefunden, nämlich im Alleingang eine Stiftung mit Korporationsrechten anzustreben, die "unter dem Schutz des Privatrechts" verläßlicher sei als eine Einrichtung, die staatlichen - und damit stärker dem Wandel ausgesetzten - Regelungen unterliege. Ein solcher Alleingang konnte dem Hospitalverein auch nur recht sein, denn schließlich hatten "mehrere Beförderer" ihm eine Spendenzusage von insgesamt 3325 Talern gemacht unter der Voraussetzung, "daß wir dann allein die Corporationsrechte nachsuchen und erhalten würden".

Der Streit endete erwartungsgemäß mit der Aufkündigung der Zusammenarbeit von seiten des Hospitalvereins : "Da nun dieselbe (die Armenverwaltung, S.H.) unseren letzten als Ultimatum bezeichneten Vorschlag abgelehnt hat, so erachten wir die Verhandlungen als beendet, und werden sofort nach Einberufung der General-Versammlung bei den betreffenden Behörden die nöthigen Schritte thun, um die Concession von Corporationsrechten zu erbitten."(19) Am 2.Januar 1848 billigte die Generalversammlung das Vorgehen; der Vorstand stellte jetzt einen entsprechenden Antrag bei der Regierung.

In dem Entwurf der Statuten für die Stiftung war von getrennten Räumen für Katholiken und Protestanten keine Rede mehr, wohl von einem Betzimmer für Angehörige der evangelischen Gemeinde und einem Raum für die Ausübung der religiösen Bräuche der "Israeliten".(20)

Die Auseinandersetzung zwischen Hospitalverein und Armenverwaltung war öffentlich geführt worden - allen Bürgern zugänglich in den Beilagen des "Bonner Wochenblattes" von Oktober bis Dezember 1847. Die Hospitalangelegenheit bekam auf diese Weise eine ungewöhnliche Publizität, die letztendlich dem Hospitalverein zugute kam. Walter hatte somit allen Grund zum Dank: "Der Verein erfuhr, welche große Kraft die Publicität in sich schließt und der Eigentümer des hiesigen Wochenblattes, Herr Neusser, hat sich durch die Uneigennützigkeit und Liberalität, womit er sein Blatt diesen Besprechungen öffnete, um das Unternehmen sehr verdient gemacht."(21) Überregionale Unterstützung erhielt der Verein durch die "Kölnische Zeitung", die einen langen Artikel über "Die Association, ihre Kämpfe und ihre Gegner" veröffentlichte.(22) Ein anonymer Schreiber machte darin dem "Herrn Ober-Bürgermeister", der Armenverwaltung und der evangelischen Gemeinde die bittersten Vorwürfe. Insbesondere die Stadt habe "die kräftige Entwicklung des Vereins mit unverkennbarer Rivalität" beobachtet, aus nur der heraus ihr Handeln zu erklären sein.

Die Armenverwaltung und mit ihr eine nicht unbedeutende Zahl von Bürgern wollten zunächst verhindern, daß der Hospitalverein die beantragten Rechte bekam. Der Hospitalverein ging deshalb in die Offensive und forderte am 21.März 1848 in einem Aufruf "An unsere hochverehrten Mitbürger in Sachen des Hospitals" die Korporationsrechte. Er brachte diese Forderung in einen Zusammenhang mit den bürgerlichen Freiheiten, die der preußische König Friedrich Wilhelm nach den revolutionären Ereignissen in Berlin soeben in Aussicht gestellt hatte: "Die Corporations-Rechte, welche für das neue Hospital verlangt werden, sind nichts Anderes, als die Freiheit und der selbständige Bestand des erhabenen christlichen Werkes, mit dessen Vollendung Ihr beschäftigt seid. Die neue Ära der Freiheit fordert diese Rechte; vergebens widerstrebt ihr ! Was nicht frei ist, kann nicht die Taufe der Zeit erhalten, kann nicht durch sie lebensfähig und stark werden."(23) Die Hospitalangelegenheit war jetzt die "Ehre von Bonn".

Glücklich fügte es sich, daß Ferdinand Walter 1848 als Abgeordneter des Kreises Rheinbach in die preußische Nationalversammlung in Berlin einzog. In dieser Funktion unterstützte er als Konservativer bedingungslos die Position des preußischen Königs und gehörte zu denen, die Friedrich Wilhelm dazu rieten, eine Verfassung zu oktroyieren, was er am 2.Dezember 1848 auch tat. Die Beziehungen Walters zum preußischen König gestalteten sich somit glänzend, und dies mag dazu beigetragen haben, daß der König am 7.März 1849 nach mündlicher Zusage per Kabinettsorder die ersehnten Korporationsrechte erteilte. Damit war der Weg frei für die Bildung eines Kuratoriums, an dessen Wahl alle Bürger beteiligt waren, die den Hospitalverein mit mindestens fünf Talern unterstützt hatten. Die Unabhängigkeit von der Stadt war jetzt gesichert. Die Stiftung konnte sich jetzt allen Konfessionen öffnen und sogar der Armenverwaltung einen Platz einräumen: Neben acht katholischen Bürgern waren zwei Mitglieder der Armenverwaltung, ein Mitglied der evangelischen Gemeinde und eines der jüdischen im Kuratorium vertreten. Somit trat der bemerkenswerte Fall ein, daß ein Krankenhaus mit streng konfessionellem Grundcharakter ein Aufsichtsgremium erhielt, in dem neben den Katholiken "nach dem Verhältnis der Population" Repräsentanten anderer Konfessionen vertreten waren.(24) Zum Vorsitzenden wurde der unermüdliche Walter gewählt, "Gründer und Seele der Anstalt".

Am 3. November kamen drei Barmherzige Schwestern in Begleitung ihrer Oberin spät abends in Bonn an. So wollten sie verhindern, daß man ihnen einen Empfang bereiten würde, der ihnen aufwendig und damit unangemessen erschien. Da sie deshalb auch niemand erwartete, trafen sie im leeren Hospital lediglich den Hausknecht an, der das Gebäude bewachen sollte: "Nach der Wanderung war es Zeit, sich zu stärken, denn die Schwestern waren nach der langen Reise hungrig geworden. Aber da war guter Rat teuer. Dem Hausknecht kam der rettende Gedanke. Er lief schnell zum Beigeordneten Gerhards, wo er um ein Körbchen Kartoffeln bat, weil soeben die barmherzigen Schwestern eingetroffen seien. Für das Abendessen und die Nachtruhe wurde jetzt, so gut es unter den Verhältnissen ging, gesorgt. Im Johannissaale standen drei mit Strohsäcken versehene Betten zur Verfügung. Aber als sich die Schwestern zur Ruhe legten, fand sich eine nach der anderen auf dem Boden wieder, weil man vergessen hatte, die Querbrettchen unterzulegen."(25)

Operationssaal
Operationssaal                                            

131 Jahre lang taten Ordensschwestern ihren Dienst im Johanneshospital. 1980 waren es nur noch 13 Schwestern - die meisten von ihnen älter als 60 Jahre. Da es an Nachwuchs fehlte, fand das Kuratorium schließlich Ersatz in der Schwesternschaft des Deutschen Roten Kreuzes.

Bescheiden war die Ankunft der ersten Schwestern, pompös dagegen der Tag der Einweihung am 19. November 1849. Es war "eine feierliche Handlung, woran sich die Notablen der Stadt, der Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen und andere Prinzen, die Damenwelt Bonns, die Schützengilde wie überhaupt die ganze Bevölkerung der Stadt einmüthig beteiligt hatten"(26) Dem Gottesdienst im Bonner Münster folgte der Festzug zum Hospital, vor dem Walter die Rede hielt, mit der er die neue Anstalt mit 70 Betten ihrer Bestimmung übergab. Ein gemeinsames Festessen nach den Feierlichkeiten zu veranstalten, erschien wegen der hohen Ausgaben unangemessen. Ausgelassen gefeiert wurde schließlich doch noch am Abend: Es tagte der "gesellige Hospitalverein": "Im fröhlichen Kreis freute man sich des bedeutungsvollen Tages, den man begangen, und angemessene Vorträge, Deklamationen und Lieder unter rauschender Musik würzten die große Versammlung."(27) Ferdinand Walter wurde zum Abschluß mit einem improvisierten Fackelzug nach Hause begleitet.

Mit dieser Einweihung beginnt die Arbeit im Bürgerhospital St.Johannes, das vor allem auch den Armen Aufnahme und Pflege bot. Für seinen Unterhalt war es weiterhin auf die Unterstützung der Bonner Bürger angewiesen. Vermächtnisse, Stiftungen von Freibetten, Dienstbotenabonnements, aber auch die Einrichtung einer Abteilung für Privatpatienten sicherten seinen Bestand und ermöglichten bereits in der 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts seinen kontinuierlichen Ausbau. Nach drei schweren Bombenangriffen im 2.Weltkrieg beträchtlich zerstört, wurde es nach 1945 unverzüglich wieder aufgebaut, so daß es bereits Ende 1946 wieder 100 Kranke aufnehmen konnte. Bis auf den heutigen Tag möchte das Bürgerhospital seinen Anspruch, allen Aufnahme zu bieten, ernst nehmen.


Anmerkungen:
  1. Doelle 1924, S.1
  2. Zum Hospitalwesen s. Literatur im Anhang.1898 wurde St.Aegidius abgerissen, seine Bewohnerinnen brachte man in einem Konvent in der Breitestraße unter. 1902 wurde auch St. Jacob dorthin verlegt. Heute sind in diesen Gebäuden ein Tagespflegeheim und eine Altentagesstätte der Stadt Bonn untergebracht.
  3. Bonner Wochenblatt vom 1.4.1842
  4. Bonner Wochenblatt vom 8.4.1842
  5. Bonner Wochenblatt vom 12.4.1842
  6. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, 010
  7. Bonner Wochenblatt vom 10.6.1842
  8. Gatz 1971, S.520
  9. Bonner Wochenblatt vom 15.6.1845
  10. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, Sammlung Walter
  11. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, 030
  12. Bonner Wochenblatt vom 24.6.1846
  13. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, 014
  14. Bonner Wochenblatt vom 19.6.1848
  15. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, 013
  16. Bonner Wochenblatt vom 12.12.1847
  17. Bonner Wochenblatt vom 29.11.1847
  18. Bonner Wochenblatt vom 29.11.1847
  19. Bonner Wochenblatt vom 29.11.1847
  20. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, 031
  21. Walter 1865, S.155
  22. Privatarchiv St.Johannes-Hospital, Sammlung Walter
  23. Bonner Wochenblatt vom 21.3.1848
  24. Walter 1865, S.163
  25. Doelle 1924, S.126
  26. Bonner Wochenblatt vom 21.11.1849
  27. Bonner Wochenblatt vom 21.11.1849

Quellen und Literatur:

StA Bonn, Pr 888, Pr 2756, Pr 2899, Pr 3523, Pr 592, Pr 769
Bonner Wochenblatt Jahrgänge 1842 - 1849
Privatarchiv St.Johannes, Sammlung Walter, 010, 011, 012, 013, 014, 030, 031, 033

Aders, Gebhard: Die Entwicklung der Bonner Stadtverwaltung 1814 - 1914; in: Aus Geschichte und Volkskunde von Stadt und Raum Bonn. Festschrift für Josef Dietz; Hrsg.: Ennen, E./Höroldt, D.. Bonn 1973, S.380 - 417.
Doelle, Ferdinand: Das St.Johannis-Hospital in Bonn. Festschrift zu seinem 75jährigen Bestehen. Bonn 1924
Eichner, Wolfgang: Evangelische Sozialarbeit im Aufbruch. Bonn 1986
Gatz, Erwin: Kirche und Krankenpflege im 19.Jahrhundert. München, Paderborn, Wien 1971.
Höroldt, Dietrich: Bonn im Vormärz und in der Revolution 1814 - 1849, in: Geschichte der Stadt Bonn. Band 4: Bonn. Von einer französischen Bezirksstadt zur Bundeshauptstadt 1794 - 1989. Bonn 1989, S.73 - 186.
Marx, Felix: Die Tradition beginnt mit dem valetudenarium Romanorum Bonna. Ein kleiner Streifzug durch die Bonner Krankenhausgeschichte. Bonn 1986
Stursberg, H.: 100 Jahre St.Johanneshospital in Bonn 1849 - 1949. Bonn 1949.
Velten, Anton: Medizinische Topograhie des Kreises Bonn. Hrsg.: Körschner, Dieter. Bonn 1988.
Walter, Ferdinand: Aus meinem Leben. Bonn 1865.
Photonachweis: Alle Photos aus: Doelle, Ferdinand: Das St. Johannis-Hospital in Bonn.
 
 
 
 

"Die getauften Meyers"

Otto Meyer und die "Bonner Fahnenfabrik" im Nationalsozialismus

(Horst Pierre Bothien)

"Not und Elend sind das Erbe des Nationalsozialismus. Aber ohne Trümmer und Zerstörung keine Freiheit, ohne die furchtbaren Opfer kein menschenwürdiges Dasein, nicht nur für uns, sondern für alle, die guten Willens sind."

So zieht Otto Meyer 1946 Bilanz: In seinen Lebenserinnerungen (1) berichtet er über seine Erfahrungen im "Dritten Reich", und sein Resümee klingt keineswegs bitter oder resignierend, obwohl er selbst, seine Familie und Freunde unter dem NS-Regime schwer leiden mußten. Denn bei allem Verfolgungsdruck erfuhr Otto Meyer auch unerwartete Hilfe und Unterstützung, die ihm schließlich das Leben retteten. Und so gibt diese biographische Skizze nicht nur einen Einblick in das, was den "jüdischen Mischlingen" während der NS-Zeit angetan wurde, sondern sie handelt auch von Menschen, die unter Gefahr wie selbstverständlich halfen.

Otto Meyer wurde am 18. September 1895 in Bonn geboren, und es stand früh fest, daß er später einmal - genauso wie einst sein Vater und dessen Bruder Cäsar - die Bonner Fahnenfabrik, die schon seit zwei Generationen in Familienbesitz war, übernehmen sollte. Zunächst absolvierte er jedoch den Militärdienst, meldete sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und beendete sein Jurastudium mit der Promotion. Anschließend wurde ihm die kaufmännische Leitung der Firma übertragen.

Während der Weimarer Zeit expandierte die Firma. 1928 bezog man in der Rheindorferstr. 224 das neue Fabrikgebäude - eine ehemalige Kaserne. 1929 gründete Ottos Bruder Hans in Italien eine Zweigstelle der Firma, die "Fabbrica Italiana Bandiere". Trotz Wirtschaftskrise war der Bonner Betrieb auf dem Weg, die "größte Fahnenfabrik Deutschlands" zu werden, wie es der Werbespruch auf einer Preisliste verkündete. Allerdings erlebte die Firma auch kritische Phasen: Nachdem der Textilarbeiterverband 1928 harte Kritik an Arbeitsbedingungen und Lohnhöhe geübt hatte, wurde der Betrieb bestreikt und mußte sogar vorübergehend schließen. Otto Meyers Verhandlungsgeschick hatte nicht ausgereicht, den Arbeitskampf zu verhindern (2). 1932 starb der Seniorchef der Firma, Rudolf Meyer. Die Söhne Otto und Hans Meyer übernahmen nun die gesamte Firmenleitung.

Die Bonner Fahnenfabrik hatte nicht zuletzt auch immer wegen der Staatsaufträge floriert, insbesondere in Kriegszeiten. Die Firmenchronik von 1956 stellt hierzu fest: " Mit dem Kriegsbeginn 1914 sind natürlich Fahnen und Flaggen sehr begehrt. Aber Zeltbahnen und Strohsäcke sind auf den dringenden Wunsch der Heeresverwaltung ebensogut auf den Fahnennähmaschinen noch zusätzlich herzustellen." Weiter unten im Text heißt es: "Kriegsbedingte (2. Weltkrieg H.B.) Aufträge der Kriegsmarine und Heeresverwaltung für Kriegs-, Signal- und sehr verschiedenartige Sonderflaggen sichern die Weiterführung der Produktion."(3)

Bonner Fahnenfabrik
Bonner Fahnenfabrik                                

Vor dem Hintergrund der Familiengeschichte der Meyers mutet diese letzte Feststellung befremdlich an, denn sie galten nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als Juden und gehörten als solche zu jener Personengruppe, deren Vernichtung durch eben diesen Krieg erst möglich wurde. Der jüdischen Glaubensgemeinschaft gehörten sie zwar nicht mehr an; Otto und sein Bruder Hans waren schon früh - Otto bereits 1906 - evangelisch getauft worden. Die Mutter gehörte seit dem Tode ihres Mannes keiner Glaubensgemeinschaft mehr an. Dennoch blieben sie nach NS-Auffassung "rassische Juden".

Otto Meyer blieb zunächst von Repressionen verschont. Weder wurde gegen ihn - wie gegen andere Juden - schon vor 1933 polemisiert, noch kam es in den ersten Jahren nach der "Machtergreifung" zu Boykottmaßnahmen oder antisemitischer Hetze gegen seine Firma.

Das änderte sich im Januar 1936: Damals erschien im "Westdeutschen Beobachter" und im "Stürmer" ein Artikel mit der Überschrift: "Die getauften Meyers". In typischer NS-Manier wandte sich der Autor gegen die Auffassung des Syndikus des Verbandes Bonner Einzelhändler, die Inhaber der Fahnenfabrik stammten aus einer christlichen Familie, da sie christlich getauft seien. Das Fazit des Artikels: "Die Inhaber der Bonner Fahnenfabrik sind Juden. Das Taufwasser hat ihre Rasse und ihr Blut nicht geändert. Sie sind Juden und müssen als solche behandelt werden." (4)

Westdeutscher Beobachter Januar 1936
Westdeutscher Beobachter                      
Januar 1936

Wahrscheinlich wurde der Artikel auch vom Reichsschatzmeister der NSDAP gelesen, denn dieser erstattete wenig später beim Oberstaatsanwalt beim Sondergericht Köln Anzeige gegen Otto Meyer mit der Begründung, die Bonner Fahnenfabrik stelle amtliche Fahnen, also auch Fahnen und Symbole des "Dritten Reichs" her und vertreibe sie auch. Ein jüdischer Betrieb dürfe dies nicht, da laut § 4 Absatz 1 des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre das Hissen der Reichs- und Nationalflagge bzw. das Zeigen der Reichsfarben von Juden verboten sei. Analog hierzu, so die Argumentation, müsse natürlich auch das Herstellen und der Vertrieb dieser Staatssymbole strafbar sein. Und weiter wurde argumentiert: "Es ist ein höchst unerfreulicher Zustand und mit dem Ansehen der NSDAP und des nationalsozialistischen Staates unvereinbar, wenn ausgerechnet jüdische Firmen mit den Symbolen des Nationalsozialismus Geschäfte machen."(5)

Die Ermittlungen wurden aufgenommen, Kontrollen durchgeführt, und tatsächlich fand man Hakenkreuzfahnen, DAF-Fahnen, Wimpel. Auch in Preisverzeichnissen wurde mit Schaubildern für ihren Vertrieb geworben.

Otto Meyer wurde vorgeladen und verhört. Er konnte nachweisen, daß er sich an die Vorschriften gehalten hatte und keine Tragfahnen, sondern nur Haus- und Dekorfahnen vertrieben hatte, dies auch nur bis zum April 1936, als auch dieses den jüdischen Betrieben verboten wurde. Das Verfahren vor dem Sondergericht Köln wurde daraufhin eingestellt, wahrscheinlich wohl auch deshalb, weil inzwischen die Firma den Besitzer gewechselt und so "arisiert" worden war. Der Familie Meyer war es gelungen, die Firma auf Meyers Schwiegervater Wilhelm Hollweg zu übertragen. Die Verträge bestimmten, daß im Falle seines Todes die Firma den beiden Ehefrauen der Brüder Meyer übertragen würde. So konnte die Firma als Familienbesitz gesichert werden.

Otto Meyer wurde in den folgenden Jahren weiterhin als Jude behandelt; er bekam einen "Judenpaß", mußte den Vornamen "Israel" tragen, hatte eine Judenvermögensabgabe zu leisten. Nur das Leben in der "Mischehe" mit seiner "arischen" Frau schützte ihn vor noch drastischerer Verfolgung, wie sie den anderen Juden in Bonn 1941/42 widerfuhr. Diese hatten sich ab Juni 1941 im beschlagnahmten Endenicher Kloster "Zur Ewigen Anbetung" einzufinden und wurden im Verlauf des Jahres 1942 in die Vernichtungslager deportiert.

Otto Meyers "Judenpaß"
Otto Meyers
"Judenpaß"                  

Nur ganz wenige "ungeschützte Volljuden" brauchten 1941 nicht in das Endenicher Kloster umzuziehen. Zu ihnen gehörte Frau Anna Meyer, Ottos Mutter. Zwar hatte auch sie ab 1. September 1941 den "Judenstern" zu tragen, mußte auch sie Gold- und Silberbesitz abgeben und ihren Aktienbesitz gegen Zwangskurse einwechseln, aber sie brauchte, wahrscheinlich wegen ihres angegriffenen Gesundheitszustandes, nicht ins Internierungslager "Endenicher Kloster" umzusiedeln. Ein solcher Schritt mußte besonders den älteren Juden sehr schwer fallen, bedeutete die Internierung doch eine weitere Steigerung der Repression und erhöhte die Ungewißheit in bezug auf die Zukunft. Sie mußten die Atmosphäre des privaten Heimes verlassen und sich einer ungewohnten, reglementierten Lagergemeinschaft anpassen. Die psychischen Belastungen führten bei einigen schon vor der Internierung zum plötzlichen Tod. Andere wählten bewußt den "Ausweg" des Freitodes, wie z.B. der Mathematikprofessor Felix Hausdorff. Anna Meyer zog dieselbe Konsequenz. Als sie am Tage nach ihrem 70. Geburtstag den Deportationsbefehl von der Gestapo erhielt, nahm sie sich mit einem Schlafmittel das Leben. Um keine weiteren Schwierigkeiten zu bekommen, beschloß man, den Selbstmord nicht offiziell zu melden. Der herbeigerufene Arzt spielte mit.

Durch ihren Selbstmord entzog sich Anna Meyer dem Schicksal ihrer Geschwister. Eine ihrer Schwestern kam in einem polnischen Konzentrationslager ums Leben. Eine weitere Schwester überlebte zwar das Ghetto Theresienstadt, starb aber kurz darauf an Fleckfieber.

Otto Meyer, der promovierte Jurist, einstiger Miteigentümer und kaufmännischer Leiter der weltbekannten Fahnenfabrik, war seit Kriegsbeginn immer stärkeren Repressionen ausgesetzt. Seit 1939 ohne Arbeit, wurde er 1943 vom Arbeitsamt zwangsverpflichtet und bei der städtischen Müllabfuhr eingesetzt. Hier mußte er aus dem Abfall der Stadt Altpapier und Blechdosen herauszusuchen.(6) Die Photos aus jener Zeit belegen seinen Arbeitseinsatz, aber sie täuschen den Betrachter über seine Härte hinweg: Der freundlich lächelnde Otto Meyer hatte schwere, insbesondere aber ungesunde Arbeit zu verrichten. Meyer schreibt in seinen Erinnerungen hierzu: "Diese Tätigkeit war äußerst ungesund und sollte zu Erkrankungen führen. Nachdem ich von Mai 1943 bis April 1944 dort gearbeitet hatte, trat die Erkrankung in Form einer Lungenentzündung ein, der sich eine Herzmuskelschädigung anschloß, so daß ich von April bis September 1944 erkrankt war." (7)

Otto Meyer und Prof. Nussbaum
Otto Meyer und Prof. Nussbaum              

Im September 1944 wurde nunmehr die letzte Phase der NS-Judenverfolgung eingeleitet. Während die deutschen Städte allmählich in Schutt und Asche gebombt wurden, während die Bevölkerung in Not und Chaos leben mußte, arbeitete die Gestapo-Bürokratie zielstrebig weiter. Die Verfolgung richtete sich jetzt auch gegen die noch in "Mischehen" lebenden Juden und Personen, deren Großeltern Juden waren ("Mischlinge I. Grades"). In Bonn begann diese Aktion am 12. September. Die in einer "Mischehe" lebenden Ehepartner, deren Kinder und die sog. "Halbjuden" - in Bonn ein Personenkreis von etwa 300 Personen - hatten sich auf Vorladung entweder an diesem Tag oder eine Woche später im Gestapogebäude im Kreuzbergweg einzufinden. Von dort wurden die Transporte zusammengestellt mit dem Ziel Müngersdorfer Lager in Köln. Anfang Oktober wurden sie von hier aus zum Arbeitseinsatz in den Raum Kassel/Leipzig verbracht; der "arische" Ehepartner hatte den Gau Köln/Aachen zu verlassen.

Nicht wenige der zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden wurden später noch in Konzentrationslager deportiert; mindestens sieben dieser verschleppten Bonner sind dort umgekommen. Viele jedoch nutzten die zunehmend chaotische Kriegssituation zur Flucht. Für sie wurden die Monate zwischen Oktober 1944 und März/Mai 1945 die Zeit der Illegalität mit all ihren Konsequenzen für Versorgung und Unterkunft. Kellerräume, Dachböden, Hütten oder wie in einem Falle ein kleiner Erdbunker am Venusberg wurden jetzt Zufluchtsorte im heraufziehenden Winter, den es ohne Lebensmittelkarten zu überstehen galt. Aber es war nicht nur die Zeit des illegalen Lebens, sondern auch des - vielfach anonymen - Helfens.

Auch Otto Meyer bekam am 12. September die Vorladung, sich bei der Bonner Gestapo zu melden. Auch er stand vor der Frage, sich zu melden oder in die Illegalität zu gehen. Auf Rat von Familie und Freunden entschloß er sich für den letzteren Weg. Er versteckte sich zunächst im Haus der Eltern, dann bei einer Bekannten in Bad Godesberg. Am 16. Oktober faßte er jedoch den Entschluß, sich der Gestapo zu stellen, in der Hoffnung den anderen Leidensgenossen folgen zu können: Ich "wurde sofort festgehalten und in eine der Haftzellen eingesperrt, die tief unten in den Kellern waren. ... Dann kam ich in eine größere Zelle, in der sich ausländische Arbeiter aller Nationen befanden: Italiener, Franzosen, Holländer, Belgier, Russen, Polen, ja selbst Türken und Indochinesen und nur wenige Deutsche. Die Zelle war so eng, daß wir auf einer breiten Holzpritsche kaum liegen konnten; zwei Eimer waren aufgestellt, die fast nie geleert wurde. Drei Tage lang bekam ich kein Essen, dafür war Ungeziefer in reichlichem Maße vorhanden". (8)

Tagsüber mußte Otto Meyer in der Markthalle Kartoffelsäcke schleppen. Als dann nach zehn Tagen die Gestapozelle wegen Überfüllung geschlossen wurde, wurde er ins bewachte Barackenlager an der Kölnstraße gebracht. Jetzt mußte er im zerstörten Bonn Aufräumungsarbeiten erledigen.

Zwangsarbeit bei der städtischen Müllabfuhr
Zwangsarbeit bei der städtischen
Müllabfuhr                                                 

Otto Meyers Schicksal wäre wohl besiegelt gewesen, hätten nicht seine Familie, langjährige Freunde, Bekannte, selbst Verfolgte und einfach selbstlos Handelnde ihm geholfen. Zu allererst ist dabei seine Frau zu nennen, die - was keineswegs selbstverständlich war - als "Arierin" zu ihrem Mann hielt und ihn unterstützte, wo sie konnte.

Nicht alle "arischen" Ehepartner hatten damals die Kraft, dem Druck von Staat und Partei auf Scheidung nicht nachzugeben. Aber da gab es auch die langjährige Hausgehilfin Käthe Böhm, die "immer die Verbindung mit mir aufrechterhalten (hat); sie brachte mir zusätzliche Lebensmittel, die bei der schlechten Gefangenenkost wesentlich waren". (9)

Dann gab es den langjährigen Jugendfreund Paul Ahl, den Eigentümer der Kaiserapotheke Hans Rosskath, den Otto Meyer gar nicht näher kannte, und Dr. Plate. Die drei Männer organisierten später Otto Meyers Flucht. Da gab es aber auch den Kriminalbeamten, der eine Hausdurchsuchung verhinderte, wohl wissend, daß Otto Meyer sich im Hause versteckt hielt. Noch viele weitere Namen erwähnt Otto Meyer in seinen Lebenserinnerungen. Über weite Passagen seines Berichts erscheint es so, als wenn viele Bonner Bürger zumindest in diesen letzten Monaten des "Dritten Reichs" eine solidarische, gegen die Gestapo-Herrschaft gerichtete Gesellschaft gebildet hätten.

Meyer wurde in jener Zeit jeden Tag an verschiedenen Stellen zu Aufräumungsarbeiten eingesetzt. So kam er eines Tages auch auf den Kaiserplatz, wo sich ihm die Gelegenheit bot, mit dem Apothekenbesitzer Rosskath ins Gespräch zu kommen. Dieser hatte Kontakte zur Gestapo und war bereit, sich erkundigen, was mit Meyer geschehen sollte. Einige Zeit später erfuhr Rosskath, daß die Gestapo plante, Meyer in ein Konzentrationslager einzuweisen, um ihn auf dem Weg dorthin zu ermorden. Die Freunde bereiteten die Flucht vor: "Ich werde die Tage nie vergessen, in denen die Gewißheit des Endes vor meinem Auge stand, wenn sich nicht Gelegenheit und Gelingen der Flucht verwirklichten. Montag, den 27. November mittags 1/2 2 Uhr - ich arbeitete an einer der belebtesten Stellen der Stadt - kam Käthe mit der Nachricht, daß um 1/2 3 Uhr an der nächsten Ecke ein Auto stehen würde, mit dem ich fliehen sollte. Ich fand eine Ausrede und begab mich zu der vorgesehenen Zeit zu dem Auto, in welchem ein mir unbekannter Unteroffizier der Luftwaffe am Steuer saß. In rasender Fahrt ging es zu unbekanntem Ziel, die Kölnstraße hinunter, dann außerhalb von Bonn kurz vor dem Nordfriedhof einen schmalen Weg hinein; dort wurde ich vor einem alleinstehenden Haus von einem alten Mann empfangen, der mich mit den Worten "Guten Tag, Herr Hermans, das sind Sie doch" anredete." (10)

Aber auch hier konnte er bald nicht mehr bleiben. Vom 21. Dezember 1944 bis zum 5. Februar 1945 folgte nunmehr eine Zeit des Herumwanderns und Herumirrens, des Suchens nach Schutz und Obdach. Wieder waren es Freunde, die ihm weiterhalfen. Bei einer Frau Dahlem erlebte Meyer die schweren Luftangriffe vom Dezember 1944, den schlimmsten am 28. Dezember: "Etwa 6 schwere Luftminen und Sprengbomben kamen in nächster Nähe des Hauses herunter, die Türen im Keller flogen herein, die Menschen lagen betend auf den Knien. Ich hatte Gift, das ich immer in diesen Zeiten bei mir geführt habe, in der Hand, um wenn eine Rettung unmöglich war, davon Gebrauch zu machen. Als wir, über die Trümmer der Kellertreppe steigend, die Straße betraten, waren die Häuser fast völlig verschwunden."

Otto Meyer litt unter dem Leben in Notunterkünften, der winterlichen Kälte, der Angst vor den alliierten Bombenangriffen, besonders aber der Furcht, kontrolliert und erkannt zu werden. Schließlich faßte er den Plan, zu Verwandten von Frau Dahlem nach Adenau in die Eifel zu fahren. Am 4. Februar glückte die Flucht aus Bonn. In einem kleinen Wochenendhaus konnte Meyer dann den Einmarsch der Amerikaner und damit die Befreiung abwarten.

Otto Meyer überlebte. Er kehrte nach Bonn zurück und nahm seine Tätigkeit in der Fahnenfabrik wieder auf. Im Mai 1945 wurde er von den Alliierten in den zwölfköpfigen Bürgerrat berufen, der die Stadtverwaltung in wichtigen Fragen beriet und unterstützte. Später war Meyer bis 1952 Stadtverordneter der CDU. Als er sein Mandat niederlegte, wurde gemutmaßt, er habe es aus gesundheitlichen Gründen getan. Vielleicht war es ihm bewußt, daß es nicht mehr lange zu leben hatte, und so initiierte er 1956 zum doch ungewöhnlichen Datum des 90-jährigen Bestehens seiner Firma ein Jubiläumsfest. Eine größere Festschrift wurde erstellt, in der über die Geschichte der Firma in der NS-Zeit kaum etwas zu lesen ist. - Nicht nur die Täter verdrängten ihre Schuld, sondern auch die Opfer ihre Leiden. Nach schwerer Krankheit starb Otto Meyer am 28. September 1957 im Alter von 62 Jahren.

Anmerkungen:
  1. Otto Meyer: Meine Erlebnisse in den Jahren 1933-1945. Handschriftl. Manuskript, Bonn 1946. Von der Tochter Otto Meyers, Frau Hebermehl freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
  2. vgl. "Rheinische Zeitung" v. 11.2., 21.3., und 30.3.1928
  3. Fahnen wehen in aller Welt. Firmengeschichte zum 90-jährigen Bestehen der Bonner Fahnenfabrik. Bonn 1956, S. 22 u. 47.
  4. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Ger. 112/9926
  5. ebd.
  6. Der Oberbürgermeister am 24.9.1943 dazu: "In der Zwischenzeit sind mit dem Aussortieren 7 jüdische Arbeitskräfte, die mit arischen Frauen verheiratet sind, eingesetzt worden, die unter ständiger Aufsicht arbeiten müssen, wodurch sich im Jahre 1943 das Ergebnis, wie erkennbar, ganz wesentlich gesteigert hat." Stadtarchiv Bonn Pr 30/365
  7. Meyer, Erlebnisse, a.a.O.
  8. ebd.
  9. ebd.
  10. ebd.
  11. ebd.
Photonachweis: Die Photos stammen aus dem Privatbesitz der Familie Hebermehl, Bonn.
 
 
 
 

"Liederliche Dirnen"

oder Prostitution als notwendiger Lebensunterhalt

(Bettina Bab)

"Mit Haft wird bestraft: Eine Weibsperson, welche wegen gewerbsmäßiger Unzucht einer polizeilichen Aufsicht unterstellt ist, wenn sie den in dieser Hinsicht zur Sicherheit der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes erlassenen polizeilichen Vorschriften zuwiderhandelt, oder welche, ohne einer solchen Aufsicht unterstellt zu sein, gewerbsmäßig Unzucht betreibt." (§361 Stgb)

Dieser Paragraph aus dem Strafgesetzbuch konnte für Frauen unangenehme Folgen haben. Schon das bloße Spazierengehen - in bestimmten Gegenden - genügte, um in den Verdacht der Prostitution zu geraten, und konnte einen Anlaß zur Verhaftung bieten. Manche Frauen wurden bei der Polizei denunziert, andere wurden von Wachmännern auf ihren Rundgängen angesprochen, wenn sie in Begleitung "fremder" Männer waren.

Wie aber war es für Polizisten möglich, zweifelsfrei zu beurteilen, welche Beziehung zwischen diesen Frauen und deren Begleitern bestand? Erwies sich die Vermutung auf "gewerbliche Unzucht" als richtig, so waren die Frauen fortan als "Winkelhure" registriert und standen unter sanitätspolizeilicher Kontrolle.

1854 hatte die Stadt Bonn die "wöchentliche Revision der Lustdiener hiesiger Stadt" (Pr 5992) eingeführt: Jede eingeschriebene Prostituierte mußte sich einmal wöchentlich zur Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten in der Hautklinik einfinden. Versäumten sie die Kontrolle, hatten sie mit einer Geld- oder Haftstrafe zu rechnen.

Im Falle einer Geschlechtskrankheit mußten sie sich sechs bis zehn Wochen in der Universitätsklinik auskurieren. Die Gefahr der Ansteckung war für die Frauen groß, zumal es kaum Möglichkeiten gab, sich zu schützen. Im Sommer 1896 waren zwei von sechs registrierten Prostituierten als krank gemeldet. 1904 waren bei 35 kontrollierten Frauen mindestens zehn Krankheitsfälle in den Polizeiakten vermerkt; unter ihnen befanden sich zwei Frauen, die sich kurze Zeit nach der Genesung gleich wieder ansteckten. Die Kosten der Behandlung trug die Stadt. Im Haushaltsjahr 1890/91 mußte sie 1.487 Mark dafür aufwenden; hinzu kamen noch die Kosten für die wöchentlichen Untersuchungen. Da die Freier sich nicht untersuchen lassen mußten, werden die Kontrollen in erster Linie dem Schutz der Männer gedient haben.

Die bürgerliche Doppelmoral gestattete den Männern ungehindert den Besuch von Bordellen und den Umgang mit Prostituierten, während den Frauen Verhaftungen bevorstanden, wenn sie sich nicht registrieren ließen - von den vielen Diskriminierungen ganz zu schweigen. Die Gesundheitsuntersuchungen waren sicherlich für manche Frauen entwürdigend, zumal sie in der Universitätsklinik als Anschauungsobjekte für die Studenten dienten. Aber auch im Alltag waren die Frauen nie vor dem Auge des Gesetzes sicher.

Den registrierten Frauen war es verboten, im Winter ab 19 Uhr, im Sommer ab 21 Uhr bis zum nächsten Morgen das Haus zu verlassen. Auf diese Weise sollte verhindert werden, daß sie den Schutz der Dunkelheit nutzten, um ihrem Gewerbe nachzugehen. Wenn die Polizei sie in dieser Zeit außerhalb ihrer Wohnung antraf, wurden sie in polizeilichen Gewahrsam genommen und mußten mit mehrtägigen Haftstrafen rechnen. Dies kam wohl recht häufig vor, wie die in den Akten erhaltenen Meldungen des Polizeiwachtmeisters Köhler an seinen Vorgesetzten aus den ersten Monaten des Jahres 1868 zeigen. Am 28. Februar 1868 berichtete er: "Heute Abend nach 8 Uhr traf der unterzeichnete mit Polizei Sergeant Gehde am Josephstor die Catharina K., Ehefrau von Johann F., wohnhaft Kaule. Dieselbe führte ein kleines Körbchen bei sich und gab an, sie wolle für ihren Mann etwas Fett kaufen." Nichtsdestotrotz wurde die Frau mit 14 Tagen Haft bestraft. Köhler war natürlich allgemein bekannt, und oftmals konnten sich Frauen der Verhaftung entziehen, weil sie bei dessen Auftauchen rechtzeitig geflohen waren. Köhler ging allerdings seine Aufgabe mit großem Eifer an, wie sein folgender Bericht zeigt: "In der Nacht vom 26 zum 27ten d. Mts [April] gegen 2 Uhr kam ich mit Wächter Trimborn in die Heisterbacherhofstraße. Wir sahen aus der Kaule einen Mann kommen, welcher nach der Windmühlenstraße ging und sich mehrmals umsah. Gleich nachdem kamen zwei Frauenzimmer und zwei Herren, welche denselben Weg passierten. Ich beauftragte den Trimborn, nachzugehen und sich von den Personen zu überzeugen. Ich selbst ging durch die Wurstgasse in die Engeltalerstraße. Hier kamen mir die zwei Frauenzimmer ohne Begleitung entgegen, machten aber als sie mich erblickten kerth und liefen durch die Windmühlenstraße nach der Kaul zurück in das Haus des Spickermann. Als ich dort ankam und sie ersuchte, die Stubenthür zu öffnen, gaben sie zur Antwort, ich hätte ihnen nicht sollen nachkommen, ich hätte in der Nacht auf der Windmühlenstraße nichts zu thun. Diese Personen waren 1. die Ehefrau R. und 2. dessen [sic!] Schwester Christina R.. Verschiedene Personen riefen mir bei verschlossener Thür zu, es seien noch zwei Herren bei denselben im Zimmer. Infolge dessen besetzte ich das Haus mit den Wächtern Trimborn und Rheidt. Um 6 Uhr ging ich mit dem Sergeanten Gelde an das Haus. Ritzdorf erklärte, er ließ niemanden in seine Wohnung als nur den Herrn Inspektor oder den Herrn Commissar. Von dem Wächter Trimborn wurde mir der Christian F., Fabrikarbeiter ..., wohnhaft [bei]der Witwe Schnitzler, übergeben. F. ersuchte ich, mit mir nach dem Herrn Inspektor zu gehen: woselbst er erklärte mir, er sei diese Nacht bei der Christiane R. im Zimmer gewesen und sei, als er mich gesehen habe, mit derselben und der Ehefrau Ritzdorf wieder nach der Kaule gegangen. Er sei der Liebhaber der Christiane R. und habe ihr nichts bezahlt." Die beiden Frauen wurden jeweils mit neun Tagen Haft bestraft
 
 

Der Fall Amalie/Elise W:

Polizeibericht, Bonn, den 6.11.03:
"Die Dirne Elise W., geboren am 6.2.1877 zu Hof-Eschenau, welche am 13.5.1903 hier unter Sittenkontrolle gestellt wurde, trieb sich am 5. d. Mts. Abends gegen 11 Uhr 20 Minuten in der Poststraße umher. Die Genannte muß um 7 Uhr Abends in ihrer Wohnung sein und darf nach dieser Zeit die Straße nicht mehr betreten; sie wurde dieserhalb festgenommen. Bei der heute vorgenommenen ärztlichen Untersuchung wurde dieselbe an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit - Tripper - leidend befunden, ihre Aufnahme in die hiesige Klinik konnte jedoch wegen Platzmangels nicht erfolgen.."

Polizeibericht, Bonn, den 16.11.03:
Die seit dem 12. April 1902 hierselbst unter Sittencontrolle stehende Amalie W., welche seit einigen Monaten in Cöln auffällig ist und dortselbst ebenfalls unter Sitten-Controlle steht, wurde in der Nacht vom 5. zum 6. November hier festgenonmmen, am anderen Tag der Haut-Klinik zugeführt und als geschlechtskrank befunden.
Da in der Hautklinik nach Angaben des Arztes Dr. Grouven kein Platz vorhanden war, wurde die W. im Männer-Asyl untergebracht, von wo aus dieselbe jeden Morgen zur ärztlichen Untersuchung in die Hautklinik vorgeführt wird.
Am 13. ds. Mts. fand nun eine Dienstmagd Anna H. wegen Verdachts auf Tripper in der Hautklinik Aufnahme und mußte die W., welche bereits vor der H. krank befunden wurde, zurückstehen. - Dieses ist um so auffallender, als Dr. Grouven inzwischen schon befragt worden ist, ob die W. nicht Aufnahme finden könne, indem durch die tägliche Zuführung derselben dienstliche Schwierigkeiten entständen."

Antwort von Dr. Grouven, Bonn, den 21.11.03:
"... zurückgesandt mit dem Bemerken, daß die Prostituiertenabteilung der Hautklinik, die etatmäßig 10 Betten III. Cl. umfaßt, z.Zt. von 18 Patientinnen belegt ist und zwar durchgehend von solchen, die auf Kosten der Stadt Bonn verpflegt werden.
Die H. ist nur deswegen aufgenommen worden, weil wie dem vorführenden Criminalbeamten ausdrücklich erklärt wurde, mit Rücksicht auf eine voraussichtlich erforderliche Begutachtung ihrer nicht ganz sichergestellten Erkrankung, eine regelmäßige Beobachtung nötig erschien.
Die W., die schon einmal die Klinik durchs Dach verlassen hat, würde zudem, wie sie auch selbst ankündigte, auch jetzt kaum länger als 24 Stunden in der Klinik zu halten gewesen sein."

Elise W. an den Bonner Oberbürgermeister, Bonn, den 22.11.03:
"Ich möchte dringend bitten um Abhilfe, da ich schon in der dritten Woche hier im Männerasyl bin, ohne reine Wäsche zu bekommen, und ohne Freigang hier auf einem Zimmer eingeschlossen wie im Gefängnis sitze. Und wen ich krank bin, so gehöre ich in ein Krankenhaus und nicht in das alte Männerasyl. Ich möchte nochmals bitten, daß ich von einem anderen Arzt untersucht werde, der Dr. Grufen in der Klinik ist mir nicht maßgebend, da er mich auf dem 1. August dieses Jahres auch festgehalten hat, und ohne eine Behandlung bin ich in dem selben Tage durchgebrannt und kam 4 Tage später in Cöln zum Arzt und der hat nichts an mir gefunden und habe bis jetzt stets [die]Kontrolle passiert in Cöln und [bin] noch nicht für krank befunden worden. Sogar am 5. November war ich noch zur ärztlichen Untersuchung und fuhr Abends nach Bonn, weil ich hier was zu erledigen hatte und wurde, als ich im Bahnhof war und nach Cöln fahren wollte, mitgenommen und hier zur Klinik geführt. Da war ich krank. Wenn der Herr Oberbürgermeister das vielleicht nicht glauben will, so möchte ich bitten, daß er sich nach Cöln nach der Sittenpolizei wendet. Die Controllbücher sind die Beweise Ich möchte bitten daß ich hieraus komme, entweder zur Klinik oder nach Cöln, da ich in Cöln unter Kontrolle stehe und nicht hier. Ich möchte bitten daß ich sofort von einem anderen Arzt untersucht werde, weil der Dr. Grufen sich ausgedrückt hat ..., es würde noch Monate lang dauern bis ich gesund wäre. Dann sollen sie mich, wenn sie viel Geld haben, zur Klinik thun, mich dort so lang behalten, aber hier kann ich nicht mehr bleiben.
Wenn mir keine Abhilfe gemacht werde, so weiß ich mich woanders hin[zu]wenden. Das ist Freiheitsberaubung, einen so einzuschließen auf ein Zimmer. Ich bin doch nicht in Strafe. Wenn ich krank bin, so gehöre ich ins Krankenhaus. Ich möchte bitten um Abhilfe sofort."

Anzeige des Verwalters des Bonner Männerasyls Johann S., Bonn, den 25.11.03
"Die seit dem 7.11.03 hier im Männerasyl wegen Geschlechtskrankheit untergebrachte Dirne Else W., ist heute Nachm. gegen 6.00 Uhr entflohen. Die Genannte hat die Schrauben der Türventilation gelöst bzw. durch Entfernen des Holzes freigelegt, wodurch sich die ganze Ventilation wegnehmen ließ. Hierdurch entstand eine Öffnung von ca. 40 ctm. Höhe und 70 ctm. Breite, durch welche die W. auf den Korridor und über diesen nach dem Ausgange gelangte. Da die beiden Gartentüren verschlossen waren, ist die Weiß über die Mauer geklettert, die auf der Innenseite nur eine Höhe von 1,20 m. hat, wogegen dieselbe auf der Außenseite ca. 3 m. hoch ist. Der Anstaltswärter hat die W. an seinem Fenster vorbeilaufen sehen, konnte dieselbe aber trotz der sofortigen Verfolgung nicht mehr erreichen, da sie in der Dunkelheit verschwunden war.
Die W. bewohnte in der III. Etage ein Zimmer, welches durch eine Tür mit dem Nebenzimmer verbunden war. Auch von dieser Türe hat die Beschuldigte das Schloß entfernt, konnte aber nicht heraus, da diese Türe von außen durch ein Brett verriegelt war. Von den Arbeiten an der Ventilation, die anscheinend mit einem Messer ausgeführt worden sind, ist in der Anstalt nichts gemerkt worden. Die Wiederherstellungskosten werden ca. 10,00 M. betragen."

Polizeiverwaltung Bonn an das Polizeipräsidium Köln, Bonn, den 2.12.03:
"Die hierselbst sowie in Cöln unter Sittenkontrolle stehende Amalie W. wurde ..., da sie für geschlechtskrank befunden wurde, zwangsweise in ärztliche Behandlung gegeben. Dieser Behandlung hat sich die W., ohne daß sie geheilt war, am 25 v. Mts. durch die Flucht entzogen.
Da anzunehmen ist, daß die Genannte sich nach Cöln begeben hat, wo sie seit einigen Monaten wohnt, mache ich von Vorstehendem ergebenst Mitteilung."

Antwort, Köln, den 4.12.03:
"Die W. gelangte am 2. D. Mts. von Bonn kommend hier für Königsplatz 7 zur Anmeldung und hat sich am 3. D. Mts. zur ärztlichen Untersuchung gestellt, bei der sie gesund befunden wurde."

Polizeiverwaltung Bonn an den Direktor der Kliniken, 9.12.03:
"... Der Herr Polizei-Präsident zu Cöln ... teilt mir mit, daß ... [die W.] ... bei der am 3. dieses Monats vorgenommenen ärztlichen Untersuchung gesund befunden worden sei. Dieser Befund entspricht der Behauptung der W., daß sie nicht an einer ansteckenden Krankheit leide.
Da bei dieser Sachlage mit ziemlicher Gewißheit zu erwarten ist, daß die W. Beschwerde erheben wird, ersuche ich ergebenst, mir eine Äußerung über die Krankheit der Genannten zukommen zu lassen."

Antwort von Dr. Grouven, Bonn den 10.12.03:
"... zurückgesandt mit dem ergebenen Bemerken, daß ich s. Zeit bei der W. alle Anzeichen von Tripper - Eiter und Trippererreger in der Harnröhre und dem Gebärmutterhals - nachgewiesen habe. Wenn dieser Nachweis bei einer späteren Untersuchung nach einer mehrwöchentlichen Behandlung der Erkrankung nicht mehr gelungen ist, so beweist dies nicht einmal, daß die W. ganz gesund ist, geschweige denn, daß sie es früher war."

Vermerk von Dr. Dreyer (Arzt im Kölner Polizeigefängnis), Köln, den 18.12.03:
"Die Dirne W. ist von mir 2mal (gestern und heute) im Gefängnis auf Tripper untersucht worden. Die Untersuchungsverhältnisse waren gestern insofern besonders günstig, als heute die Periode begann. Doch habe ich gegenwärtig weder klinisch noch bakteriologisch die Zeichen bezw. die Erreger des Trippers im Cervikal- oder Urethralsekret feststellen können."


 
Im Fall von Anna P., die 1901 wegen Unzucht inhaftiert und in der Klinik wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt worden war, verfuhr das Gericht besonders hart: Sie wurde nach ihrer Genesung ins Arbeitshaus Brauweiler gebracht. Diese Maßnahme war in früherer Zeit üblich: Prostituierte wurden so lange in Brauweiler unter Aufsicht gestellt, bis sie durch gutes Betragen eine "Besserung ihres Lebenswandels" bewiesen hatten.

Aus den Polizeiberichten geht hervor, aus welchem sozialen Milieu die Frauen stammten. Sie wohnten zum großen Teil in der "Kuhl", dem Arbeiterviertel am Rhein, das durch den Bombenangriff am 18.10.44 fast vollständig zerstört wurde. Viele waren verheiratet, einige verwitwet. Die Frauen hatten nur ein geringes Einkommen, das wahrscheinlich nicht zum Überleben reichte. Die Akten nennen Dienstmädchen, eine Fabrikarbeiterin, Näherinnen oder Köchinnen. Die Ehemänner der Frauen waren Tagelöhner, Ziegelarbeiter oder ein Schuster. Ohne materielle Not boten die Frauen wohl kaum ihren Körper zum Verkauf an, wie z.B. Susanne B., die beim Polizeiverhör gestand, "...daß sie mit mehreren Husaren des hiesigen Regiments geschlechtlich verkehrt und für diesen Verkehr Getränke und Essen angenommen habe ...". Die Polizei beurteilte die Motive der Frauen jedoch anders. So ist in den Akten von einem "in sittlicher Hinsicht durch und durch verdorbenen Frauenzimmer" die Rede, "welches doch wohl gelobte, sich zu bessern, aber ihrem Versprechen nicht nachkommt. In den letzten Tagen noch hat Krim. Insp. Sergeant ... beobachtet, daß sie mehrere Herren auf der Straße ansprach." (Pr 5990)

Wo gingen die Frauen nun auf "Kundenfang"? Sie waren am Rheinufer, am Rheinwerft, am Neuthor und zunehmend am Hofgarten anzutreffen, also vielfach an Orten, die unbeleuchtet und unbewohnt waren. Dem Kuratorium der Universität war das Treiben im Hofgarten ein Dorn im Auge. Es beauftragte den Museumswächter Bahr im Juli 1892 damit, dieses Treiben eingehend zu beobachten und darüber zu berichten. Am 21. September teilte Bahr dem Kurator mit: "Fast jeden Abend habe ich die Beobachtung gemacht, daß sich Frauenzimmer und Männer insbesondere um das Museum umhertreiben. Es scheinen dieses welche [zu] sein, welche unter sittenpolizeilicher Controlle stehen, denn ich habe dieselben wiederholt vor dem Fenster meiner Wohnung verjagt und erhielt ich dann eine derartige Antwort, wo ich vorstehendes drauß schließen mußte, z.B. "ich habe die Erlaubnis dazu" u.s.w.

Seit 8 Jahren, solange ich im Museum wohne, ist dieser Unfug hier gewesen, und es scheint fast, das zeigen schon die Zerstörungen in den jungen Anpflanzungen um das Museum, mit kurzen Unterbrechungen und trotzdem sich in letzter Zeit ein Polizei Beamter in Uniform hier bewegt, keine Abnahme stattgefunden haben, denn ich habe grade seit ungefähr 2 Monaten (nach dem mir gewordenen Auftrage) häufiger Beobachtungen angestellt, es ist wie in den früheren Jahren."

Der Kurator wandte sich daraufhin direkt an Oberbürgermeister Spiritus und schickte ihm den Bericht von Bahr "... dem ich den Auftrag zur Beobachtung des Treibens der liederlichen Dirnen im Hofgarten ... ertheilt hatte, mit dem ergebenen Ersuchen, denselben zur Kenntnis der unterstellten Polizeiorgane zu bringen und dieselben gefälligst anzuweisen, nach Möglichkeit jenem Unwesen, das in den Dämmer- und Abendstunden sich auf's Unangenehmste fühlbar macht, zu steuern." Seitens der Universität hatte man den Promenadenaufseher angewiesen, vor allem den südlichen Teil des Hofgartens in den Abendstunden genau zu kontrollieren. Bei Unterstützung durch die städtischen Sicherheitskräfte erhoffte man sich "einen baldigen und dauernden Erfolg, der im allgemeinen Interesse nur zu wünschen ist". Der Bonner Polizeiinspektor war da allerdings skeptisch: "Das Unwesen im Hofgarten hat sich, wie mir allseits bestätigt wird, gegenüber früher bedeutend verringert. Es ganz zu unterbinden, wird kaum möglich werden."

Die Zahl der registrierten Prostituierten änderte sich von Jahr zu Jahr und schwankte beträchtlich. 1896 ist nur von sechs Frauen die Rede, 1905 waren es 35. Das war im Vergleich zu anderen Städten wenig. Vielerorts stand das Anwachsen der Prostituierten in engem Zusammenhang mit einer raschen Industrialisierung, die viele alleinstehende Männer in die Städte zog. In Bonn als Universitäts- und Pensionärsstadt fand nur spät und in geringem Umfang eine Industrialisierung statt. Hier waren die Freier weniger Arbeiter, sondern eher Husaren und Regimentsangehörige. Wahrscheinlich sind auch Studenten hinzuzurechnen, denn in den Sitzungen des 1908 gegründeten "Ortsvereins zur Bekämpfung der öffentlichen Sittlichkeit" wurde wiederholt der "Stand der Sittlichkeit unter den Studenten" thematisiert.

Da es in Bonn nur wenige Fabriken gab, waren es hier weniger die sehr schlecht bezahlten Industriearbeiterinnen, die in die Prostitution getrieben wurden, als vielmehr Dienstmädchen und Mägde. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren zwei Drittel der erwerbstätigen Bonnerinnen "in Stellung"; bis zur Jahrhundertwende war dies die häufigste Erwerbstätigkeit der Frauen. Abgesehen von der äußerst notdürftigen Bezahlung, die zu einem Zusatzverdienst Anlaß geben konnte, waren die Dienstmädchen den sexuellen Belästigungen der Hausherren und ihrer heranwachsenden Söhne ausgesetzt. Nicht selten wurden sie schwanger, was in der Regel die fristlose Kündigung zur Folge hatte. Vermutlich war für manche, die keine Familie in Bonn hatte, die Prostitution der einzige Ausweg aus ihrer Notlage, denn als ledige Mütter fanden sie in den gutbürgerlichen Haushalten kaum eine neue Stelle.

Auch Frauen, die schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, wurden schließlich Prostituierte. Die geschiedene, dann wiederverheiratete Katharina S., wohnhaft Maxstr. 9, war 1893 wegen "Abtreibung der Leibesfrucht" zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden, 1895 wegen erwerbsmäßiger Unzucht zu einer Woche Gefängnis und 1901 zu sechs Wochen Haft wegen Kuppelei. Darüber hinaus war sie siebenmal wegen "Sittenpolizei-Kontravention" , versäumter Sittenkontrolle, bestraft worden. Diese Aufzählung ihrer Strafen zeigt aber nur ein sehr einseitiges Bild, denn die Hintergründe, die Katharina Schneide zu ihrem Verhalten veranlaßt haben, sind in der Akten nicht aufgeführt.

War eine Frau erst einmal wegen "gewerbsmäßiger Unzucht" registriert, so erwiesen sich die Kontrollen und Bestimmungen als Teufelskreis, dem sie nur schwer entrinnen konnte. Die wöchentlichen Untersuchungen und die ständige Verhaftungsgefahr, z. B. wegen Überschreitens des abendlichen Ausgangsverbots, erschwerten es den Frauen sehr, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Die Wäscherin Gertrud B., die nach eigenen Angaben nur in Ausnahmefällen Liebesdienste verrichtete und "durch die Denunziation gehässiger Personen ... unter sanitätspolizeiliche Controlle gestellt" worden war, schilderte 1889 in einem Schreiben an die Stadt, wie nachteilig sich die Sanitätskontrolle auf ihren Broterwerb auswirkte. "Nun kann ich aber, wenn ich Mittwochs zur Klinik zur ärztlichen Untersuchung gehen muß, meine Kunden, von denen ich Arbeit habe, nicht zur pünktlichen Zeit bedienen, und muß es den Leuten doch auffällich werden, und die Folge davon wäre, daß ich meine Arbeit verlieren und keine andere erhalten würde." Sie bat, ihr die Untersuchungen zu erlassen, denn sonst würde sie wirklich in die Prostitution getrieben. Das Gesuch wurde von der Polizeibehörde abgelehnt.

Generell waren die Aussichten auf positiven Bescheid nicht günstig. Es bedurfte genauer Observierung und eines tadellosen Betragens, um wegen guter Führung von der Sittenkontrolle entbunden zu werden. In der Regel waren die Frauen für lange Zeit stigmatisiert. Eine schnellere Möglichkeit, die lästigen Kontrollen zu umgehen, bestand darin, sich beim Einwohnermeldeamt abzumelden. Manche blieben "illegal" in Bonn wohnen, andere zogen in eine andere Stadt, um ein neues Leben zu beginnen.

Quellen:

Pr 5990 Polizeiliche Mitteilungen über geschlechtskranke Frauenzimmer Pr 5992 Beaufsichtigung und Bestrafung der der öffentlichen Unzucht nachgehenden Frauenzimmer

 
 
 
 

Arbeitskreis Stadtteilgeschichte Bad Godesberg

Im August 1999 hat sich der AK Godesberg der Bonner Geschichtswerkstatt konstituiert. Er trifft sich seitdem an jedem ersten Mittwoch im Monat im Büro der Geschichtswerkstatt in der Adenauerallee 58. Interessierte sind jederzeit. bei unseren Sitzungen willkommen. Getreu unserer Tradition wollen wir uns vor allem mit dem Leben der "kleinen Leute" sowie generell mit weniger bekannten Aspekten der Bad Godesberger Geschichte beschäftigen. Wir wollen uns aber auch mit traditionellen Themen (z.B. Godesberg als Badeort) kritisch auseinandersetzen. Die Ergebnisse des. Arbeitskreises sollen - so ist es jedenfalls geplant - in eine Publikation ähnlich unserem Beuel-Buch einfließen.

Folgende Themenkomplexe erscheinen uns von besonderem Interesse:

Natürlich sind wir zum jetzigen Zeitpunkt noch offen für Beiträge und Anregungen aller Art. Besonders würde es uns freuen, wenn wir für die Publikation leihweise interessante historische Bilder und Dokumente von Privatleuten zur Verfügung gestellt bekämen.